Kunst und Wissenschaft. Einige Erklärungen zu den in Brissago (Vernissage am Samstag 17. März 2018) ausgestellten Arbeiten
Kunst und Wissenschaft sind zwei Möglichkeiten, die Welt und das Leben ein Bisschen zu erahnen. Anfangs hatte ich gedacht, der Zugang dazu wäre in der Wissenschaft vorwiegend rational, vom planenden Verstand geleitet und in der Kunst vorwiegend intuitiv, vom Gefühl geleitet. Im Laufe meiner langen Tätigkeit als Forscher habe ich bemerkt, dass meine Forschung, zumindest in der Phase der Planung, wesentlich von der Intuition geleitet war. Seit meiner Pensionierung vor bald neun Jahren kann ich mich endlich intensiv der Kunst widmen; da beginne ich zu verstehen, dass die Dichotomie zwischen Ratio und Intuition zu kurz greift. Die Wissenschaft zehrt von beidem, sie ist ein stetes Wechselspiel zwischen geplantem rationalem – in der Regel Paradigma-geleitetem – Vorgehen und intuitivem Vor-Verständnis. Das Gleiche gilt für die Kunst. Künstlerische Tätigkeit lebt nicht ausschliesslich von der Intuition, vom Gefühl. Gewisse meiner Bilder und Skulpturen verdanken ihre Entstehung einem intensiven Gefühl. Erst in der Phase der genaueren Ausarbeitung werden sie durch rationale Überlegungen beeinflusst. Bei anderen Bildern – besonders bei den Portraits – habe ich von Anfang an eine recht genaue Vorstellung, wie das Produkt aussehen soll. Ich teile die Bildfläche in unterschiedliche Sektoren ein und wähle auch die Farben nach vorbestimmten Kriterien. Das Gleiche gilt für die Pappmaché- Objekte, nicht so sehr für die Wurzel-Figuren. Allerdings – und dies ist die spannende Erfahrung – auch dieses anfänglich rationale Vorgehen wird bald einmal abgelöst durch intuitiv geleitete Aktivität.
Als Akademiker empfand ich meine wissenschaftliche Tätigkeit als eine inhaltlich kohärente Abfolge von Experimenten, konkret realisiert in der Form von Forschungsprojekten. Ein ähnliches Empfinden habe ich jetzt in meiner künstlerischen Tätigkeit. Jedes Bild, jede Skulptur, jedes Objekt ist für mich ein Experiment. Oft ist es ausgelöst durch ein intensives Gefühl, das ich sichtbar machen möchte, um damit umgehen zu können. Manchmal ist es eine Idee, eine künstlerische oder auch nur eine technische, welche mich reizt, sie auszuprobieren.
Die Ausstellung in Brissago habe ich unter das Motto «Begegnung» gestellt. Auf unseren Lebenswegen begegnen wir immer wieder anderen Menschen. Es finden aber auch Begegnungen mit der belebten und unbelebten Natur statt, Begegnungen mit Ideen, Kunstwerken, Büchern. Begegnungen mit uns selber. In den glücklichen Fällen führen Begegnungen zu Beziehungen (z.B. Begegnung II) und damit zu einer neuen Fülle des Lebens. Leben heisst Beziehung schaffen. Erst in der Beziehung wird Leben intensiv. Leider sind unsere Lebenswege auch gezeichnet durch Nicht-Beziehungen. Die Wege kreuzten sich zwar, aber die Wanderer schauten sich nicht an, sie wollten nicht oder sie waren einfach zu müde.
Linolschnitte
Ich mag den Linolschnitt, weil er Kreativität mit solidem Handwerk verbindet und dies, ohne dass ich – wie etwa bei den Betonfiguren – eine aufwendige Technik installieren muss. Mit dem einfarbigen Linolschnitt lassen sich bei vernünftigem Aufwand lebensnahe Portraits herstellen (z.B. Aline, Zoe, Mutter mit Kind, Vater mit Tochter). Aufwendiger sind mehrfarbige Linolschnitte (Kapuzinerkresse, Tulpen, Banking Square). Eine individuelle Note erhalten diese, wenn beim letzten Durchgang mit einer schmalen Farbwalze bestimmten Bildteilen ein letzter Farbtupfer hinzugefügt wird. Das Ergebnis fällt bei jedem gedruckten Exemplar unterschiedlich aus. Dass das Endprodukt nicht vorhersagbar ist, macht den besonderen Reiz dieser Technik aus (z.B. Spätherbst, Winterkamelie, Nanny Goat with Kid).
Einige Linolschnitte finden sich an der Ausstellung in Brissago, andere können auf meiner Webpage (www.fredisgarden.net) betrachtet werden.
Linolstempel und Mischtechnik
Mit der Technik der Linolstempel wird der Linolschnitt aus seinem etwas starren Gefüge befreit. Die Szene wird nicht mehr als Gesamtkomposition auf eine Linolplatte geschnitten. Vielmehr wird jede «Figur» mit Hilfe eines individuellen Stempels auf das Papier gedruckt. Damit lassen sich mit den gleichen Stempeln unterschiedliche Kompositionen herstellen (z.B. Schwäne, Drei und drei Schwäne, Kleinfamilie II, Meditation I).
Um die Einzelfiguren in den Linolstempel-Bildern besser in einen verbindlichen Begegnungsraum zu stellen, habe ich neulich begonnen, das Bild – im Sinne einer einfachen Mischtechnik – mit einer Linolwalze und stark verdünnter Linolfarbe zu übermalen (z.B. Begegnung II, Morgenpromenade, Mädchen mit Trottinett).
Einige Linolstempel-Bilder und Bilder mit Mischtechnik finden sich an der Ausstellung in Brissago, andere können auf meiner Webpage (fredisgarden.net) betrachtet werden.
Collagen
Für die Collage-Bilder verwende ich entweder von Hand gerissenes Papier, am liebsten selbst geschöpftes (z.B. Fisch im Netz II) sowie Papiere aus dem Himalaya (z.B. stumme Begegnung), oder ich arbeite mit gepressten Pflanzen. In den Bildern Wolf bei Sonnenaufgang oder Urwald mit Leopard und grüner Schlange wird auf einer vorderen Ebene ein Wald mit Hilfe gepresster Pflanzen gestaltet. Auf einer hinteren gezeichneten Ebene jedoch erscheint plötzlich und unerwartet ein wildes Tier, Symbol menschlicher Urängste. Dabei steht die vordere Ebene der Pflanzen für die reale Welt, die hintere, diskret gezeichnete, für unbewusste Fantasien. Ich liebe die Collage, weil sie mir erlaubt, Situationen von hohem Symbolgehalt auf kindliche Art darzustellen.
Acrylbilder
Die Acrylbilder enthalten vorwiegend Einzelpersonen (z.B. Alfredo) oder Personengruppen (z.B. Impressionen aus Cannobio). Im Gegensatz zu den entsprechenden Bildern in Mischtechnik sind hier die Personen in einen detailliert ausgearbeiteten räumlichen Rahmen gestellt.
Dreidimensionale Objekte
In den letzten Jahren habe ich mich mit unterschiedlichen dreidimensionalen Objekten beschäftigt, einerseits mit Figuren und Gebrauchsgegenständen aus Papiermaché und andererseits mit Figuren aus Holz.
Papier mâché Figuren
Im Rahmen einer Weihnachtskrippe habe ich u.a. die Erdgebundenen und die Vergeistigten geschaffen. Sie stellen für mich Prototypen menschlicher Existenz dar.
Papier mâché Gebrauchsgegenstände
In den Schalen und Vasen versuche ich, meine Vorstellungen von einem ansprechenden Design zu verwirklichen.
Figuren in Holz
In den Holzfiguren möchte ich ein spezielles künstlerisches Verständnis konkretisieren. Hier wird der Kunstgegenstand nicht geschaffen, sondern in der Natur entdeckt. Wurzeln oder andere Teile von Bäumen oder Stauden lösen beim kreativen Betrachter Fantasiewelten aus. Sie werden von der natürlichen Umwelt isoliert, gereinigt und dargestellt. Ich kombiniere diese Objekte gerne mit Granit oder anderen Steinen, die ich am gleichen Ort finde wie die Objekte selber. Bei der Darstellung vermeide ich unnötige Veränderungen des Objekts wie sie oft bei Schwemmholz-Werken anzutreffen sind. Ausser kleinen Farbtupfern zwinge ich dem entdeckten Holz nichts auf, ich versuche nicht, es zu konkretisieren. Ich bemale es ausnahmsweise, wenn die Qualität des Holzes nicht meinen Erwartungen entspricht obwohl die Form mich fasziniert. Die Holzfiguren stellen für mich die reinste Form des kreativen Aha-Erlebnisses dar.
An der Ausstellung in Brissago werden – nebst den Bildern – ausschliesslich Holzfiguren ausgestellt.
Der gespaltene Mann – die Begegnung
Die Konstruktion des eigenen Selbst in der Begegnung
Einführung zur Vernissage vom 31. August 2018 in der Callzada Gallery in Locarno
Miguel Calzada, der Galerist, hat vorgeschlagen, dass ich mich selber vorstelle, da ich – wie er sagte – mein Werk wohl selber am besten kenne. Ich heisse Fredi Büchel und wohne zusammen mit meiner Gemahlin Hedi in einem geräumigen Haus in Tegna, Pedemonte. Ich war hauptberuflich an der Universität Genf tätig und widme mich seit der Pensionierung der Kunst und – zusammen mit meiner Frau – dem Garten.
Formal und in Bezug auf die verwendeten Techniken, habe ich mich in dieser Ausstellung auf dreidimensionale Objekte und Linoldruck beschränkt. Die Objekte habe ich entweder in Holz oder in Papiermaché realisiert.
Inhaltlich wird diese Ausstellung durch zwei Themen beherrscht, einerseits der Menschen als ein gespaltenes Wesen und anderseits die Begegnung. Der zwischen unterschiedlichen Wünschen und Begierden hin und her gerissene Mensch wurde in der darstellenden Kunst wie auch in der Literatur schon oft behandelt. Die Psychologie ergänzt die beschreibende Darstellung durch eine erklärende Darstellung. Die Psychologen sprechen von der Konstruktion des eigenen Selbst oder von der Entwicklung des Selbstkonzeptes. Es stellt sich die Frage, ob und wie denn diese Zerrissenheit überwunden werden kann. Was kann dem Menschen helfen, sei eigenes Selbst zu finden? Mit dieser Frage berühren wir die zweite Thematik der Ausstellung, nämlich die Begegnung. Die Begegnung von Mensch zu Mensch (Mother with …; Promenade …), aber auch die Begegnung mit der Natur (Vase Sonnenblume, Bonbonnière, Schwäne), die Begegnung mit der Kultur (Sunday Morning in the City Park, Bunte Schüssel) und nicht zuletzt auch die metaphysische Begegnung (Grüsse aus der Ewigkeit). Ich bin überzeugt, dass wir als Menschen uns nur entwickeln können dank Begegnungen. Jede neue Entwicklungsstufe ist das Resultat einer überwundenen Krise. Krisen sind Phasen der inneren Zerrissenheit. Für mich als Künstler aber auch für mich als Psychologe stellen Krisen die interessantesten Zustände menschlicher Existenz dar.
Die Figur «Der gespaltene Mann» zeigt drei unterschiedliche Zustände des Mannes: Der Überangepasste, dargestellt als verheissungsvoller junger Bankangestellter (der Bänker) mit gebügeltem Anzug und Krawatte, der Aussteiger mit langem Bart, welcher in einem verlorenen Tal des Tessins einen alternativen Lebensstil versucht und der Abgeklärte, welcher die extremen Phasen überwunden hat. Wir können uns auch vorstellen, dass es sich um drei verschiede Lebensabschnitte handelt. Unter dem Aspekt der Entwicklung stellt der Bänker die Phase des beruflichen Aufstiegs dar, eine Phase, die von sozialer Angepasstheit geprägt ist. Irgendwann stellt der inzwischen beruflich erfolgreiche Mann mit Schrecken fest, dass er wichtige Facetten des Menschseins nur mangelhaft entwickelt hat: es handelt sich vorwiegend um Eigenschaften, in denen das Gefühl dominiert. Solche Einsicht kann zu einer Krise führen, sie kann den Mann zerreissen. Vielleicht versucht er gar aus seiner wohlgeordneten Welt auszusteigen und in einem verlassen Bergtal ein einfaches Leben zu führen. Es ist möglich, dass dieser Rückzug ihm erlaubt, sich selber zu begegnen, dass er lernt, verschiedene Bedürfnisse gelten zu lassen. Irgendwann würde er jene Weisheit gewinnen, welche der Psychoanalytiker Eriksson als höchste Stufe der individuellen Entwicklung betrachtet. Hermann Hesse in Buch «Siddhartha» spricht vom Heiligen. Aber Siddhartha hat diese höchste Stufe des Menschseins erst erreicht durch die Begegnung mit dem Fährmann Vasudeva.
Auch der Harlekin wird als eine Figur von doppelter Natur beschrieben: Gauner und Heiler, Priester und Teufel. Als Schamane ist er eine spirituelle Figur, ein Vermittler zur Welt der Geister und handumkehrt ist er wieder der bekannte Spassvogel.
Jede Entwicklung, jeder gute Ausgang einer Krise führt über eine Begegnung. Eine Begegnung mit einem anderen Menschen, mit der Natur, mit fremden Kulturen, letztlich eine Begegnung mit sich selber. Solch befreiende Begegnungen sind immer und überall möglich. Deshalb ist die Begegnung das wichtigste Thema meiner künstlerischen Tätigkeit. Im Bild «Begegnung II» stösst ein Spaziergänger zufällig auf zwei Frauen. Mit der einen findet spontan eine Begegnung im Gespräch statt. Ihre Kollegin bleibt reserviert und betrachtet dies glückliche Ereignis mit Skepsis. Sie möchte lieber weiterziehen, um eine allfällige Affäre zu vermeiden; so etwas könnte das ruhige Leben durcheinanderwirbeln.
In der Trilogie «Sunday Morning in the City Park» begegnen wir dem Mann mit der Drehorgel. Er lädt die Spaziergänger ein, gemeinsam Musik zu hören. Aber die Kinder haben sich bereits in anderen Begegnungen verloren, im Spiel mit dem Ball oder mit dem hölzernen Pferd.
Im Bild «Mädchen mit Trottinett» spricht der Mann mit dem Strohhut das Mädchen freundlich an, er sucht offensichtlich eine Begegnung, während das Paar links und der Mann rechts ebenso offensichtlich jegliche Begegnung vermeiden. Dieselbe Ambivalenz finden wir in den Strandbildern. In «Drei Paare und nicht mehr» besteht sicherlich eine Beziehung zwischen den Zweien jeden Paares. Eine Begegnung zwischen den Paaren wird aber tunlichst vermieden, eine Situation, welche ich oft an den Seepromenaden in Locarno und Ascona beobachtet habe.
Im Bild «Mother with child» neigt sich die Mutter zum Kind und auch der Mann mit Strohhut ist offen für eine Begegnung mit dem Kind, während die Frau links demonstrativ wegschaut. In «The strongman with blue sport shorts» lässt die Körperhaltung der Hauptperson ahnen, dass dieser in einer intensiven Beziehung zu jemandem oder zu etwas steht, wir sehen aber sein Gegenüber nicht.
Seit meiner frühen Kindheit ist der Garten für mich ein wichtiger Ort der Begegnung. Meine Familie besass mehrere Gemüsegärten, aber keinen Blumengarten. In den Jahren nach dem Krieg waren für die meisten Familien in der Ostschweiz Kartoffeln, Mais und Kohl wichtiger als Blumen. Diesen Mangel habe ich später kompensiert. Wenn ich Blumen male oder eine entsprechende Linolplatte bearbeite, fühle ich mich in einer innigen Begegnung mit der Pflanze und vergesse den Rest der Welt (Kapuzinerkresse, Tulpen II, Winterkamelien, Spätherbst). In den neueren Arbeiten (Zierquitte, Ginster) stelle ich die Blumen in eine Welt wirrer Linien, in eine Art von Irrgarten. Die verschlungenen Linien stellen den Alltag dar, welcher mich mit tausend Ablenkungen gefangen hält. Erst das Betrachten der Blume befreit mich, lässt mich zu mir selber finden. Die Blume drängt sich in den Vordergrund und weist den verwirrenden Linien den Platz zu, der ihnen gebührt, den Platz des dekorativen Hintergrundes.
Nicht jede Begegnung führt zu einer inneren Befreiung, nicht jede Begegnung wird als echt empfunden. «Der Mann von der Versicherung» sucht die Begegnung mit potentiellen Kunden, er begrüsst sie alle beim Namen, ist jovial und schüttelt wie alt vertraut die Hand. Aber all seine Freundlichkeit hat nur ein Ziel: In seiner Mappe wartet eine bereits ausgefüllte neue Versicherungspolice auf die Unterschrift durch den mit Freundlichkeiten gewonnen neuen Kunden. Dies ist nur ein Beispiel für viele Verkaufsgespräche.
Noch kurz ein Wort zur Technik des Linolschnittes. Sie sehen den gewohnten einfarbigen Linolschnitt (Zoë) und den mit mehreren Druckplatten hergestellten mehrfarbigen Linolschnitt (Kapuzinerkresse, Tulpen II, Ginster). In beiden Fällen wurde das gesamte Bild in ein oder mehrere Platten geschnitten. Das Verfahren erlaubt einen präzisen und satten Druck, besonders wenn mit japanischer Öl-Farbe gearbeitet wird. Für die formale und farbliche Gestaltung bleibt aber nur wenig Spielraum. In den meisten hier ausgestellten Bildern habe ich deshalb die gewohnte Technik modifiziert. Einerseits habe ich jede Figur als individuellen Stempel geschaffen (z.B. das Bild «Mother with Baby Buggy» wurde aus vier individuellen Stempeln kombiniert). Andererseits habe ich jeden individuellen Stempel mit mehreren unterschiedlichen Farben eingefärbt, dies mit Hilfe besonders schmaler Walzen (gut sichtbar in «Begegnung II», «Vater mit Rucksack»). Diese zwei technischen Modifikationen erlauben eine grosse Freiheit in der Bildgestaltung. Allerdings ist es damit nicht mehr möglich, grosse Serien zu drucken. Selbst mit japanischer Ölfarbe schaffe ich nicht mehr als zwei gute Exemplare mit einer Einfärbung. Die meisten so angefertigten Bilder sind deshalb Unikate.
Ich hoffe, dass Ihnen das Betrachten der Bilder und Objekte viel Freude bereiten wird. Danke.